Die Geburtshilfe steht vor der großen Herausforderung der Neuausrichtung angesichts veränderter medizinischer Möglichkeiten im Kontext persönlicher Vorlieben. Die Qualität des Geburtsergebnisses ist der einzige Marker, der zunehmend in Frage gestellt wird, verbunden mit dem Anspruch, auch das Geburtserleben und die Selbstbestimmung gleichberechtigt zu bewerten. Dies führt zu einem Konflikt und dem Bedürfnis nach Rechtfertigung. Im Kern geht es um unnötige und respektlose Interventionen, die potenziell traumatische oder gar gewalttätige Erfahrungen mit teilweise schwerwiegenden Folgen fördern.
Einleitung
Eine Schwangere stößt in unserer digitalen Welt je nach selektiver Wahrnehmung fast zwangsläufig auf die Botschaft, dass sie mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit (in verschiedenen Quellen ist von bis zu 30 % die Rede) bei der Geburt Trauma und/oder Gewalt erleben wird.
Dieser sprichwörtliche Elefant steht nun also in unseren Kreißsälen und viele von uns können damit genauso wenig anfangen wie damals mit den ersten werdenden Vätern, die in den 1960er und 1970er Jahren im Kreißsaal erschienen.
Aktuelle Situation in der Geburtshilfe
Lange Zeit löste der biblische Mythos von Geburt als Strafe, mit der „Wehe“ als Symbol für Drohung und Schmerz, einen kollektiven Nocebo-Effekt aus. So schafft das Erleben von Geburt als Trauma- und/oder Gewaltinszenierung ein neues Narrativ – bis dato ohne klare Trennschärfe und mit wenig Evidenz. An dieser versucht sich das Leitlinienprojekt „Peritrauma“ auf Initiative von Prof. Kerstin Weidner, Psychotherapeutin und Direktorin der Klinik und Poliklinik für Psychotherapie und Psychosomatik am Universitätsklinikum Dresden.
Unabhängig davon erscheint es mir schon jetzt wichtig, der negativen Erwartungshaltung und möglichen selbsterfüllenden Prophezeiungen etwas entgegenzusetzen. Dies gelingt nur mit schonungsloser Ehrlichkeit und Spiegelung – entgegen der oft großen, psychologisch verständlichen Abwehr bei Geburtshelfenden.
Dabei müssen wir von folgenden Grundannahmen ausgehen:
- Die Geburt selbst ist immer potenziell ein Trauma und ein Gewaltakt.
- Unumgängliche Interventionen können immer auch ein Trauma auslösen und als Gewalt erlebt werden. Diesbezüglich ist nicht das „Was“ sondern das „Wie“ entscheidend.
- Inadäquate Erwartungshaltungen triggern oftnegatives Erleben.
- Ungerechtfertigte Verletzung der Selbstbestimmung bei Mutter und/oder Kind kann traumatisieren und als ( unbeabsichtigte) Gewalt erlebt werden
- Angst ist das häufigste Gefühl rund um die Geburt. Sie triggert das Vorgehen mit positiven und negativen Effekten.
Diese Grundannahmen spiegeln den letztlich unlösbaren Konflikt aller, sich zwischen mitunter widersprüchlichen Interessen von Mutter und Kind entscheiden zu müssen.
So sieht eine Mutter bei der Alleingeburt durchaus biologische Risiken für sich und ihr Kind, bewertet jedoch die potenzielle Traumatisierung andernorts – etwa durch die Verletzung ihrer Selbstbestimmung und deren Folgen – als weitaus risikoreicher. Eine andere nimmt eine Sectio in Kauf, im festen Glauben ihrem Kind damit etwas Gutes zu tun.
Wir müssen diese Positionen zunächst ohne Bewertung stehen lassen, was nur gelingt, wenn wir grundsätzlich zum Perspektivwechsel bereit sind. Der Konflikt wird nicht dadurch gelöst, dass wir zum Teil auf Gremien- und Verbandsebene jeweilige Rechte gegeneinander ausspielen und priorisieren.
Unser aller Anliegen – nämlich, dass eine Familie an Leib und Seele rund um die Geburt gesund bleibt – kann mit sehr unterschiedlichen Haltungen, Sicht- und Vorgehensweisen verfolgt werden.
Geburtshilfe ist dabei das stete Ringen um das „Zu Viel“ und „Zu Wenig“ – am Ende eben auch oft um den Konflikt, der Mutter oder dem Kind, mitunter sogar beiden, „Gewalt“ antun zu müssen.
Dabei ist es interessant, dass diese Gewalt oft gar nicht als solche erlebt wird. Dies ist fast immer gewährleistet, wenn wir die Kunst des traumasensiblen Vorgehens beherrschen.
Fallbeispiel
Im Rahmen der Geburtsplanung fällt in der Hebammensprechstunde auf, dass eine Frau sich schwer tut, Angaben zur ersten Geburt zu machen. Sie wird mir vorgestellt und in vertrauter Atmosphäre gelingt es ihr zu sprechen: „Im Glauben an eine bald geschaffte physiologische Geburt ging die Tür auf und ein Mann vermeldete, dass er sich das jetzt nicht länger anschauen würde. Daraufhin fielen viele unbekannte Menschen über mich her. Es wurde geschrien und ich wurde sogar geschlagen. Es wurde gedrückt, gezogen, geschnitten – es war eine einzige Gewaltorgie!“.
Intuitiv frage ich danach, ob es auch irgendetwas gab, was nicht gewaltvoll erlebt wurde. Sie bejahte und berichtete von einer jungen Frau, die sie angesehen, sich vorstellt, ihr ein Vorhaben kurz erklärt und sie im Anschluss um Erlaubnis gebeten habe. Sie habe sogar versichert, auf Wunsch sofort zu stoppen. „Was sie tat, war nicht angenehm und deswegen entschuldigte sie sich danach bei mir. Das war keine Gewalt.“, berichtet die Frau.
Die genannte junge Frau war Hebammenschülerin und hatte das Kristeller-Manöver durchgeführt. Warum wurde ausgerechnet dieses Manöver (quasi das Symbol der Gewalt in der Geburtshilfe) nicht gewaltvoll erlebt? Weil die Hebammenschülerin intuitiv traumasensibel agierte und das 5E-Modell zur Kommunikation im Umgang mit Patientinnen (▶ Infobox 1) umsetzte.
Infobox 1
1. Erklären
2. Erlaubnis einholen und Widerruf betonen
3. Evidenz und Erfahrung einbringen
4. Ethisch und empathisch agieren
5. Entschuldigung
Verantwortung, Perspektivwechsel und die Kraft der Entschuldigung
Ich gebe an dieser Stelle ganz unumwunden zu, dass ich mich zumindest in der ersten Hälfte meiner 40-jährigen geburtshilflichen Tätigkeit keineswegs immer an diese 5E gehalten habe.
Die Debatte hat mir jedoch geholfen, wenigstens jetzt die richtigen Rückschlüsse für eine respektvolle, gewaltfreie Geburtshilfe zu ziehen.
Das medicolegale System versucht zwar immer wieder, uns dazu anzuhalten, sich ja nie zu entschuldigen, weil dies ein Eingeständnis bedeutet. Dennoch sehe ich gerade darin den Schlüssel für den Weg zurück zum Vertrauen.
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir sogar bei einer völlig berechtigten Notsectio wegen Plazentalösung nicht nur stolz sein dürfen, ein Leben gerettet zu haben, sondern im Rahmen des Perspektivwechsels zu dem Schluss kommen müssen, dass wir eine Frau traumatisiert und um ihre Selbstbestimmung gebracht haben. In einer solchen Situation ist es nicht angebracht, der Frau zu vermitteln, sie solle doch froh sein, dass ihr Kind überlebt hat. Vielmehr sollten wir kommunizieren, dass es uns leid tut, was sie erleben musste. Das ist kein Schuldeingeständnis, es kommuniziert Demut und Empathie.
Diese Aussage mag bei vielen zu Ungläubigkeit und dem Denkansatz führen, dass es völlig absurd ist, sich für gute Geburtshilfe auch noch entschuldigen zu müssen.
Das ist einerseits verständlich, heute allerdings nicht mehr zeitgemäß. Denn die Dialektik, in der wir älteren Geburtshelfenden groß geworden sind, gilt so nicht mehr. Wir haben tief verinnerlicht, dass wir uns vor Anklage nur durch Taten schützen können und jetzt werden wir auch noch dafür zur Rechenschaft gezogen. Dieses „Täterparadox“ ist für mich der Hauptgrund, warum das Thema so viel Abwehr erfährt.
Wenn wir aber den Konflikt annehmen, in steter Selbstreflexion immer wieder um die goldene Mitte ringen und uns um unsere Verantwortung beim Gelingen und Misslingen nicht drücken, dann schaffen wir die Grundlage – nicht für Trauma- und Gewaltfreiheit – aber für erneuertes Vertrauen in die Geburtshilfe und darum geht es schließlich.
Gewalt ist nicht immer Gewalt
In der Tat empfinden manche Frauen Gewalt, hinter der ein Trauma steckt, das niemand zu verantworten hat. Zur näheren Erläuterung dient das ▶ „Fallbeispiel zur subjektiven Wahrnehmung“.
Dieser und viele andere Fälle legen fast schon den Schluss nahe, dass bei einer Geburt nicht nur pädiatrische, sondern wohl auch psychotherapeutische und psychologische Betreuung verfügbar sein sollte.
Fallbeispiel zur subjektiven Wahrnehmung
Frau S. berichtet in der Nachbesprechung der Geburt, dass bei ihrer Odyssee, die sie von der geplanten Hausgeburt über ein Geburtshaus in eine Klinik mit finalem Kaiserschnitt geführt hat (Mutter 48 Jahre, Kind 5.000 g), alle Beteiligten nur gewaltvoll agiert haben. Ein genaue Analyse ergibt, dass durchgehend ein Höchstmaß an Traumasensibilität und Empathie vorlag. Das Problem dieser Frau war ein fast neurotischer Autonomie-Abhängigkeitskonflikt: Abhängigkeit im Kontext der (als sicher geglaubten selbstbestimmten) Geburt zu erleben, erwies sich als unaushaltbare Kränkung für sie, die sie nur über eine Projektion auf andere Beteiligte aushalten konnte.
Die Situation von Geburtshelferinnen und -helfern
Angst
Hohe Ansprüche und Standards sowie unbegrenzte Verantwortlichkeiten schüren Versagensängste. Schnell verliert die Angst ihre hilfreiche beratende Funktion und wird zum Bestimmer. Dann ist plötzlich das Seltene häufig und wir haben eine Grundangst vor dem schlechten CTG anstatt erst dann Angst zu bekommen, wenn das CTG pathologisch wird. Wenn Dinge unbeherrschbar erscheinen, verleiht die Angst keine Flügel, sondern verleitet zum Aktionismus, der Quelle unnötiger Gewalt.
So ist auch die Auseinandersetzung mit den eigenen Ängsten ein wichtiger Schlüssel zum Respekt im Kreißsaal. Darüber hinaus brauchen die relativ vielen traumatisierten Geburtshelfenden Begleitung und Fürsorge, um im Kontext einer unzeitgemäßen Sicherheits- und Fehlerkultur arbeiten und fortbestehen zu können. Stattdessen wird vielerorts immer noch nach dem „Blame-and-Shame“-Prinzip agiert.
Struktur- und Systemvorgaben
Ein System überbordender und redundanter Bürokratie liefert – neben Personalmangel und Kommunikationsdefiziten in der diversen Gesellschaft – den Nährboden für Respektlosigkeit und Traumatisierung. Die Geburtshilfe braucht mehr Geld und Anerkennung. Sie hat es nicht in den Koalitionsvertrag der Bundesregierung geschafft. Dennoch darf der stete Hinweis auf diese Defizite nicht als alleinige Erklärung für Respektlosigkeit missbraucht werden. Es ist eine große Herausforderung, Menschen in der Ausnahmesituation „Geburt“ uneingeschränkt empathisch und respektvoll zu begegnen. Dabei muss man sich stets vergegenwärtigen, dass gute Kommunikation insgesamt schneller abläuft als als schlechte Kommunikation mit ihren teilweise nachhaltigen Kollateralschäden. Sie spart also sogar Ressourcen.
Wenn also eine Frau mit Wehen unangemeldet am völlig überfüllten Kreißsaal klingelt, ist die wortlose Verbringung in die „Besenkammer“ die möglicherweise viel bessere Variante als sie zusätzlich vorwurfsvoll mit einem „Warum haben sie denn nicht angerufen“ oder „auf sie haben wir gerade noch gewartet“ zu begrüßen. Der Teufel liegt oft in winzigen Details.
Kommunikation kennt dabei keinen Meister, es ist ein lebenslanger Lernprozess. Sie ist das Gerüst einer holistischen Haltung und Vorgehensweise. Warum akademisierte Hebammen keine Selbsterfahrung machen und keine psychosomatische Grundversorgung lernen, erschließt sich mir nicht. Ich hoffe, dass die Curricula der Bachelor- und Masterstudiengänge diesbezüglich nachgebessert werden. Bei meinen Lehrveranstaltungen spüre ich jedenfalls ein großes Interesse der Studierenden an dieser Thematik.
Vorsorge in der Schwangerschaft
Ja, wir werden oft mit unerfüllbaren Erwartungen, digital gesteuerten Irrtümern und fehlender Selbstwirksamkeit mit Verantwortungsdelegation konfrontiert. Diese Entwicklung ist unter anderem ein Ergebnis der Medikalisierung von Schwangerschaft, Geburt und Stillen. Diese Themen sollten in die Lehrpläne aufgenommen werden, um einer solchen Entwicklung entgegenzuwirken.
Vielleicht hilft die in Arbeit befindliche Leitlinie zur Schwangerenvorsorge dabei, Frauen wieder mehr in Kontakt mit sich selbst zu bringen, realistische Erwartungen zu entwickeln, mehr Verantwortung zu übernehmen und sich mit geprüften Informationen besser auf die Geburt vorzubereiten. Vorsorge darf nicht nur Risiken adressieren, sondern sollte – weg vom Gießkannenprinzip – personalisiert auch Ressourcen erkennen und fördern. Dies kann übrigens, wie schon geprüft, auch in kleinen Vorsorge-Gruppen erfolgen.
Es bleibt zu wünschen, dass Schwangere wieder mehr Vertrauen zu sich und ihren Fähigkeiten entwickeln. Darauf aufbauend sollte das betreuende System um Vertrauen ringen und dieses auch „verdienen“. Das gelingt nur durch ergebnisoffene, respektvolle, empathische, letztlich holistische Betreuung, die sich auch kultursensibel zeigt. Auch die Geburtsvorbereitung muss sich an den sehr individuellen Vorgaben orientieren. Den klassischen Kurs sehe ich dabei eher als Ergänzung.
Vorsorge wünsche ich mir auch breiter und interdisziplinärer gedacht – die 13-Jährige, die ungewollt schwanger ist, braucht etwas ganz anderes als die 50-jährige Schwangere nach Herztransplantation.
Geburtsplanung
Ein personalisiertes Betreuungskonzept kann dann bei der Geburtsanmeldung und -planung fortgeführt werden. Die Hebammensprechstunde bietet dafür einen niederschwelligen Rahmen, in dem sich Schwangere öffnen können. Ergänzt um Aufklärung, Pränataldiagnostik und psychologische Begleitung wird so eine individuelle Geburtsbetreuung möglich. Nach meiner Erfahrung führt dies nicht nur zu weniger Interventionen, sondern auch zu einem besseren Geburtserleben und weniger Trauma- oder Gewalterfahrung.
Qualität in der Geburtshilfe
Was wir messen (pH, APGAR) spiegelt nur teilweise die Qualität unserer Geburtshilfe wider.
Trauma- und Gewalterleben sind unerwünschte Ereignisse und sind mit ähnlich schweren Folgen (Depression, PTBS, Bindungsstörung, Selbstmord als wahrscheinlich häufigste mütterliche Todesursache) behaftet, wie eine kindliche Asphyxie. Geburtserleben ist gut messbar und erfreulicherweise wird dies auch in den Leitlinien zunehmend berücksichtigt. Hier schließt sich der Kreis der Holistik – Leib und Seele finden sich bei der Erfassung des Erlebnisses gleichrangig beachtet.
Das beste Instrument der Qualitätserfassung ist übrigens die Nachbesprechung der Geburt. Hier geht es nicht nur um die „schweren“ Fälle, sondern auch die kleinen Fehler und das Befrieden des Unerwarteten und Unerwünschten. Bei Vorwürfen dürfen wir nicht der Versuchung erliegen, uns nur zu rechtfertigen und auf die desolate Rahmenbedingung zu verweisen. Wir sollten nach Prüfung Verantwortung übernehmen, uns entschuldigen und versichern, dass wir daraus lernen wollen. Genau das schafft Vertrauen – eben auch dann, wenn Geburt und Betreuung Belastendes hinterlassen haben. Genau das ermutigt Frauen, mit uns ins Gespräch zu kommen und eben nicht nur eine Rose abzulegen.
Fazit für die Praxis
Die Trauma- und Gewaltdebatte in der Geburtshilfe ist aktuell sehr präsent und sie kann nicht einfach ignoriert werden. Sie lässt sich nicht durch Wegsehen oder Schweigen aus der Welt schaffen. Im Gegenteil: Sie sollte Anlass zur Analyse sein. Sie soll zu Richtigstellung durch Evidenz und Neuausrichtung führen. Dem neuen Noceboeffekt erwartbarer Traumatisierung und Gewalterfahrung können wir nur entgegentreten, wenn wir für den Perspektivenwechsel bereit sind.
Geburtshilfe bleibt ein manchmal unlösbarer Konflikt divergenter Interessen. Dafür müssen alle Verantwortung übernehmen. Das, was früher uneingeschränkt als richtig galt, steht heute paradox empfunden im Fokus der Kritik oder gar Anklage. Dem können wir begegnen, indem wir unser Handeln kritisch überprüfen, neue Qualitäten anerkennen und unser eigenes Bild von Fehlverhalten ergänzen.
Respektvoller Umgang schließt Trauma- und Kultursensibilität ein und zeigt mitunter Demut durch Bedauern, selbst da wo Handeln gut und unumgänglich rettend war, aber einen gefühlt hohen Preis hatte.
Dieser Paradigmenwechsel in der Haltung könnte – gemeinsam mit neuen Ansätzen in Fürsorge, Vorsorge und Geburtsvorbereitung – der Schlüssel sein, Vertrauen auf allen Seiten wiederherzustellen. So ließe sich die Geburt humanisieren, ihre besondere Aura bewahren und man könnte sie von der Last unnötiger Nocebo-Effekte befreien – auch wenn sie sich wohl immer auf dem schmalen Grat zwischen Traum und Trauma bewegen wird.
Wolf Lütje
Zusammenfassung
Die Geburtshilfe steht vor der großen Herausforderung der Neuausrichtung angesichts veränderter medizinischer Möglichkeiten im Kontext persönlicher Vorlieben. Die Qualität des Geburtsergebnisses ist der einzige Marker, der zunehmend in Frage gestellt wird, verbunden mit dem Anspruch, auch das Geburtserleben und die Selbstbestimmung gleichberechtigt zu bewerten. Dies führt zu einem Konflikt und dem Bedürfnis nach Rechtfertigung. Im Kern geht es um unnötige und respektlose Interventionen, die potenziell traumatische oder gar gewalttätige Erfahrungen mit teilweise schwerwiegenden Folgen fördern. Die Doktrin „Hauptsache, das Kind ist gesund“ ist zu Recht ins Wanken geraten und erfordert eine Schulung in traumasensiblem, respektvollem und kultursensiblem Verhalten – auch Bildung, Aus- und Weiterbildung sind eine Aufgabe. Auch Rechtsklarheit, Richtlinien und eine neue Sicherheits- und Fehlerkultur können die dahinterliegenden Ängste abbauen – ein Weg, um der Traumatisierung von Geburtshelfern entgegenzuwirken.
Summary
Obstetrics is facing the great challenge of realignment in the face of changing medical possibilities in the context of personal preferences. The quality of the birth outcome is the only marker that is increasingly being questioned, combined with the claim to also evaluate the birth experience and self-determination on an equal footing. This leads to a conflict and the need for justification. At its core, it is about unnecessary and disrespectful interventions that promote potentially traumatic or even violent experiences with sometimes serious consequences. The doctrine „The main thing is that the child is healthy“ has rightly begun to falter and requires training in trauma-sensitive, respectful and culturally sensitive behaviour – education, training and further education are also a task. Legal clarity, guidelines and a new culture of safety and error can also reduce the underlying fears – a way to counteract the traumatisation of obstetricians.
Literatur
- Kruse M., Hartmann K. et al, Trauma und Gewalt in der Geburtshilfe Schattauer 2024
- Lütje W., Gewaltiges und Gewalttätliches in der Geburtshilfe Ärztliche Psychotherapie 2021; 16: 222–226. DOI 10.21706/aep-16-4-222 www.aerztliche-psychotherapie.de
- Kahalon, R., & Klein, V. (2024). Unmasking the role of dehumanization in obstetric violence.. Psychology of Violence. Advance online publication. https://dx.doi.org/10.1037/vio0000521
- Julia Leinweber*, Tina Jung, Katharina Hartmann und Claudia Limmer. Respektlosigkeit und Gewalt in der Geburtshilfe – Auswirkungen auf die mütterliche perinatale psychische Gesundheit. Disrespect and abuse in childbirth – consequences for maternal perinatal mental health. https://doi.org/10.1515/pubhef-2021-0040
- https://www.dggg.de/fileadmin/data/Stellungnahmen/DGGG/2023/Leitfaden_Respektvoller_Umgang_mit_Patientinnen_2023.pdf
- Weidner K et al. Traumatische Geburtsverläufe: Erkennen und Vermeiden Z Geburtsh Neonatol 2018; 222: 189–196
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